Überholen Sie noch links – oder fahren Sie schon rechts vorbei?
Am 1. Januar 2021 sind verschiedene neue Verkehrsregeln in Kraft getreten, die dem heutigen Verkehrsaufkommen Rechnung tragen und einen flüssigeren Verkehrsablauf gewährleisten sollen. Eine besonders gravierende Änderung erfuhr die Regelung über das Rechtsvorbeifahren auf Autobahnen und Autostrassen.Autor: lic. iur. Debora BilgeriReissverschlussverkehr
Der Abbau von Fahrstreifen führt oft zu Staubildung. Aufgrund der starken Verkehrszunahme und um den Verkehrsfluss zu erhöhen, ist das Reissverschlusssystem neu auf allen mehrspurigen Strassen obligatorisch, auf denen Fahrstreifen reduziert werden. Bisher wurde das Reissverschlussprinzip an endenden Fahrspuren oder Engstellen lediglich empfohlen. Bei einem Wechsel von drei auf zwei Fahrstreifen, bei Unfällen oder Baustellen ist es seit dem 1. Januar 2021 Pflicht, auf beiden Spuren bis zum Abbau der Fahrstreifen zu fahren. Dort erst erfolgt die Einreihung, indem jeder Verkehrsteilnehmer auf der weiterführenden Spur einen Verkehrsteilnehmer vom abgebauten Fahrstreifen nach dem Reissverschlussprinzip vor sich einfädeln lässt.
Bei Baustellen auf Autobahnen wird 150 Meter vor dem Abbau des Fahrstreifens ein sogenannter Andreasstreifen (Warnschwellen) angebracht, der einerseits visuell auf die Baustelle hinweisen und anderseits bei einer Überfahrt mit einem Rütteleffekt auf den bevorstehenden Fahrstreifenabbau aufmerksam machen soll.
Die Verengung beginnt auf Höhe dieses Streifens, weshalb dort bzw. unmittelbar davor der Fahrstreifenwechsel erfolgen sollte.
Fahrzeuge auf der Stammachse von Autobahnen und Autostrassen geniessen Vortritt gegenüber Fahrzeugen, die auf die Autobahn oder Autostrasse auffahren möchten. Diese müssen eine genügend grosse Lücke zum Einfädeln nutzen. Bei stockendem Verkehr auf der Stammachse, findet neu auch bei Autobahnzufahrten das Reissverschlussprinzip Anwendung. Einfahrende Fahrzeuge müssen bis ans Ende des Beschleunigungsstreifens vorfahren. Die Fahrzeuge auf der Stammachse haben ihnen nach den Bestimmungen über den Reissverschlussverkehr das Einfahren zu ermöglichen.
Durch die neue Regelung soll verhindert werden, dass zu früh auf den verbleibenden Streifen gewechselt und der Verkehrsfluss dadurch gestört wird. Der Verkehr soll nie zum Stillstand kommen und der Ziehharmonika-Effekt gemildert werden. Trotz dieser neuen Regelung hat der einschwenkende Fahrzeugführer keinen Vortritt und darf die Lücke nicht erzwingen. Im Zweifel muss er abbremsen und warten. Um diese Situation zu vermeiden, hat der Verkehrsteilnehmer auf der weiterführenden Spur rechtzeitig eine ausreichend grosse Lücke zu schaffen. Das Nichtbeachten des Reissverschlussverkehrs wird für beide Fahrzeuglenker mit einer Ordnungsbusse von CHF 100 sanktioniert.
Rettungsgasse
Nach Art. 27 Abs. 2 SVG ist beim Wahrnehmen der besonderen Warnsignale den vortrittsberechtigten Feuerwehr-, Sanitäts-, Polizei- und Zollfahrzeugen die Strasse sofort freizugeben. Auf Autobahnen und Autostrassen mit mindestens zwei Fahrstreifen in eine Richtung muss neu eine Rettungsgasse freigehalten werden, sobald sich der Verkehr nur noch mit Schrittgeschwindigkeit bewegt oder sich im Stillstand befindet. Mit dieser Regelung soll gewährleistet werden, dass die Rettungsgasse spätestens dann vorhanden ist, wenn die Fahrzeuge stillstehen. Die Bestimmung gilt auch, wenn kein Blaulichtfahrzeug zu sehen oder zu hören ist. Die Rettungsgasse ist bei zweispurigen Strassen zwischen den beiden Fahrspuren zu bilden und bei dreispurigen Strassen immer zwischen dem äussersten linken und dem mittleren Fahrstreifen. Das Nichtbeachten wird mit einer Ordnungsbusse von CHF 100 geahndet.
Rechtsvorbeifahren auf Autobahnen und Autostrassen
Die wohl gewichtigste Änderung mit den weitreichendsten Konsequenzen erfuhr die Bestimmung über das Rechtsvorbeifahren auf Autobahnen und Autostrassen. Bereits vor dem 1. Januar 2021 war das Rechtsvorbeifahren auf Autobahnen und Autostrassen beim Fahren in parallelen Kolonnen erlaubt. Die ältere bundesgerichtliche Rechtsprechung setzte für parallelen Kolonnenverkehr dichten Verkehr auf beiden Fahrstreifen voraus. Dies bedingte ein längeres Nebeneinanderfahren von mehreren sich in gleicher Richtung und mit ähnlicher Geschwindigkeit bewegenden Fahrzeugreihen, wobei zusätzlich der Abstand zwischen den einzelnen Fahrzeugen ähnlich gross sein musste. Im Jahr 2016 hat das Bundesgericht die Definition des parallelen Kolonnenverkehrs dahingehend erweitert, dass er bereits dann bejaht wurde, wenn es auf der linken (und mittleren) Spur zu einer derartigen Verkehrsverdichtung kam, dass Fahrzeuge auf der linken Spur faktisch nicht mehr schneller vorankamen als diejenigen auf der rechten. Für die Beurteilung der Voraussetzung des parallelen Kolonnenverkehrs wurde seit 2016 auf eine Gesamtverkehrsbetrachtung und nicht den Vergleich der Fahrzeugabstände auf den jeweiligen Fahrbahnen abgestellt. Sie führte in der Praxis nicht selten zu unterschiedlichen Beurteilungen ein- und derselben Verkehrssituation. Zudem hat die bisherige Regelung die Situation des Kolonnenverkehrs nur auf der Überholspur, bei normalen Fahrzeugabständen auf der Normalspur, nicht umfasst.
In jahrelanger Praxis haben Gerichte und Strafbehörden unzulässiges Rechtsvorbeifahren und Rechtsüberholen als erhebliche Verkehrsgefährdung und grobe Verkehrsregelverletzung beurteilt und mit einer Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft. Die Administrativbehörden stuften das unzulässige Rechtsvorbeifahren und Rechtsüberholen administrativrechtlich als schweren Fall mit einer Mindestentzugsdauer des Führerausweises von drei Monaten ein. Als Folge der strafrechtlichen Einstufung als grobe Verkehrsregelverletzung hatte sich der Rechtsüberholende bei einem Unfallereignis grobe Fahrlässigkeit vorwerfen zu lassen. Versicherungen konnten gestützt darauf ihre Leistungen kürzen.
Ab dem 1. Januar 2021 darf auf Autobahnen und Autostrassen auf der rechten Spur neu auch dann vorbeigefahren werden, wenn sich rechts noch keine Kolonne gebildet hat. Die neue Regelung setzt einzig voraus, dass sich auf dem linken (oder bei dreispurigen Autobahnen auf dem linken und/oder mittleren) Fahrstreifen eine Kolonne gebildet hat. Dadurch soll der Verkehr auf beiden Spuren länger fliessen.
Die neue Regelung weist ausdrücklich darauf hin, dass das Rechtsvorbeifahren mit der gebotenen Vorsicht zu erfolgen hat, weil das Rechtsfahrgebot weiterhin gilt und damit gerechnet werden muss, dass von der Kolonne auf dem Überhol- auf den Normalstreifen gewechselt wird. Umgekehrt hat der Fahrzeuglenker auf dem mittleren oder linken Fahrstreifen im Kolonnenverkehr bei einem Fahrspurwechsel mit rechts vorbeifahrenden Fahrzeugen zu rechnen. Die beim Rechtsvorbeifahren geforderte Vorsicht verlangt gemäss der Erläuterung des Bundesamtes für Strassen, dass die Geschwindigkeitsdifferenz zur Kolonne auf dem Streifen links in einem engen Rahmen bleibt. Die Gerichte werden den Begriff der gebotenen Vorsicht im Rahmen der Rechtsanwendung definieren müssen. Hierbei haben sie angemessen zu berücksichtigen, dass der Fahrzeuglenker, der von der Überhol- auf die Normalspur wechseln will, auf die ihm nachfolgenden Fahrzeuge Rücksicht nehmen muss.
Neu darf immer dann rechts vorbeigefahren werden, wenn der linke Fahrstreifen mit einer Sicherheitslinie abgegrenzt ist, sodass links fahrende Fahrzeuge die Fahrspur nach rechts nicht wechseln dürfen. Nach dem alten Recht war das Rechtsvorbeifahren nur auf dem Beschleunigungsstreifen von Einfahrten bis zum Ende der Doppellinien-Markierung zulässig. Die neue Erweiterung von Art. 36 Abs. 5 Bst. c VRV macht durchaus Sinn, da bei ausgezogener Sicherheitslinie ohnehin kein Spurwechsel erfolgen darf.
Zu beachten ist, dass alle anderen Fälle des Rechtsvorbeifahrens weiterhin verboten bleiben. Insbesondere das klassische Rechtsüberholen, mit Ausschwenken aus der Kolonne und Wiedereinbiegen, bleibt nach wie vor untersagt.
Seit dem 1. Januar 2021 wird das Rechtsüberholen auf Autobahnen und Autostrassen mit einer Ordnungsbusse in Höhe von CHF 250 geahndet. Die von der Lehre über Jahre als zu streng kritisierte bundesgerichtliche Rechtsprechung, wonach Rechtsüberholen auf der Autobahn objektiv immer und subjektiv in der Regel schwer wog, erfährt mit der neuen Sanktionierung im Ordnungsbussenverfahren die längst fällige Korrektur. Diese wichtige Neuerung soll zum Ausdruck bringen, dass nicht alle Fälle von Rechtsüberholen als grobe Verkehrsregelverletzung zu qualifizieren sind.
Diese von der bisherigen Praxis stark abweichende Beurteilung hat administrativrechtlich zur Folge, dass Rechtsüberholen neu nicht per se als schwere Widerhandlung nach Art. 16c SVG eingestuft wird und somit nicht zwingend zu einem Führerausweisentzug führen muss. Ferner entfällt der Vorwurf der Grobfahrlässigkeit und damit eine Kürzung der Versicherungsleistungen.
Höchstgeschwindigkeit für leichte Anhängerzüge
Seit dem 1. Januar 2021 dürfen Personen- oder Lieferwagen mit Anhängern bis zu 3.5 Tonnen auf Autobahnen und Autostrassen höchstens mit 100 km/h und nicht mehr wie anhin nur mit 80 km/h fahren. Anhänger, Zugfahrzeug und Bereifung müssen für diese Geschwindigkeit geeignet sein. Die Klärung, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, obliegt der Verantwortung des Fahrzeugführers. Eine spezielle Kennzeichnung des Anhängers ist nicht notwendig.