Familienrecht im Wandel der Zeit

Autor: Dr. h. c. Rolf Vetterli
Familienrecht im Wandel der Zeit

Herr Vetterli, Sie präsidierten zwanzig Jahre lang die Familienrechtskammer am Kantonsgericht St.Gallen. Ganz einfach gefragt: Was ist denn heute unter einer Familie zu verstehen?

 

Der Schriftsteller Kurt Tucholsky behauptete einmal, eine Familie sei «eine Ansammlung von Menschen verschiedenen Alters und Geschlechts, welche die Hauptaufgabe darin erblicken, ihre Nasen in die Angelegenheiten der anderen zu stecken». Psychologisch betrachtet ist jedes intime Beziehungssystem, das sich durch Abgrenzung nach aussen, Nähe gegen innen und zeitliche Konstanz auszeichnet, eine Familie. Juristisch gesehen gilt als Familie aber nur eine auf bestimmte Weise begründete und damit anerkannte Gemeinschaft, die staatlich geschützt und gefördert wird. Im Mittelpunkt steht noch immer die durch Heirat legalisierte Partnerschaft eines Mannes und einer Frau, die zusammen mit ihren minderjährigen Kindern unter einem Dach leben. Das Gesetz schreibt ihnen freilich nicht vor, wie sie miteinander umzugehen haben; es kümmert sich paradoxerweise erst dann um die Ehe, wenn diese gescheitert ist. Nichteheliche Gemeinschaften, Fortsetzungsfamilien, Stieffamilien, Pflegefamilien erhalten gar keine Aufmerksamkeit und geniessen keinen Schutz. Immerhin gibt es nun konkrete Vorschläge, die Ehe für alle, auch für gleichgeschlechtliche Paare zu öffnen, und noch vage Ideen, vermögensrechtliche Folgen nicht mehr an den formellen Status, sondern an das reale Zusammenleben zu knüpfen.

 

Welches war aus Ihrer Sicht der grösste Fortschritt im schweizerischen Familienrecht?

Das war in meiner Zeit wohl die Revision des Scheidungsrechts. Vorher wurde die Ehe noch als Institution verstanden, als Vereinigung fürs ganze Leben, die nur aus bestimmten Gründen vorzeitig aufgelöst werden konnte. Mit dem neuen Scheidungsrecht ist sie zu einem Dauerschuldverhältnis geworden, welches im gegenseitigen Einverständnis jederzeit beendet oder auf bestimmte Frist einseitig gekündigt werden kann. Die einverständliche Scheidung bildet das Gegenstück zur freien Partnerwahl: Am Anfang war es das einvernehmliche Ja-Wort und nun ist es das übereinstimmende Nein-Wort. Ehepaare müssen sich nicht mehr scheiden lassen, sie können selbst voneinander scheiden und dabei einen Vertrag schliessen, damit sie sich künftig wieder besser vertragen.

 

Kennen Sie vielleicht eine Anekdote, die diesen Umbruch zu dokumentieren vermag?

Na ja, da fällt mir der Ausspruch eines damals bekannten Fernsehmoderators ein. Er sagte ganz passend, ein Scheidungsurteil sei «der Entscheid eines Schiedsrichters, der das Spiel nicht gesehen hat». Von dieser unmöglichen Aufgabe, im Nachhinein zu prüfen, wer das Scheitern der Ehe verschuldet habe, ist das Gericht zum Glück befreit.

 

Verändert hat sich also auch der Auftrag der Familienrichterinnen und Familienrichter?

Es handelt sich heute in Familiensachen nicht mehr darum, so rasch als möglich ein Urteil zu fällen, sondern darum, ein solches so gut wie möglich zu vermeiden und die Parteien zu unterstützen, damit sie ihren Konflikt in eigener Verantwortung bewältigen können. Das ist vor allem dann bedeutsam, wenn Kinder betroffen sind, weil sie unter einem fortgesetzten elterlichen Streit am meisten leiden. In einer Lebenskrise nehmen allerdings die persönlichen Sorgen der Eltern mitunter so breiten Raum ein, dass ihre Erwachsenenkompetenz, sich in die Kinder einzufühlen, verdrängt wird. Dieses Erwachsenen-Ich muss sozusagen wieder wachgerüttelt werden. Falls doch einmal ein Entscheid zu
treffen ist, kann das Gericht nicht wie im Obligationenrecht aus einem
vergangenen und deshalb feststehenden Sachverhalt Ansprüche ableiten, sondern hat schwierige Prognosen für eine noch ungewisse Zukunft zu stellen. Dabei muss es sich auch mit Migrationsfamilien auseinandersetzen, die wenig Verständnis für unsere Rechtsordnung aufbringen, und Kinder einbeziehen, die ein eigenes Gerechtigkeitsgefühl mitbringen. Die Richterinnen und Richter sollten nicht nur über ein breites juristisches Wissen verfügen, sondern auch methodische
Fähigkeiten zur Gesprächsführung und Verhandlungsleitung erwerben sowie soziale Kompetenzen zu einem empathischen, aber gleichwohl neutralen Umgang mit Familien in Not entwickeln. Ich bedaure es immer noch, dass diese unvermeidliche Spezialisierung nicht Anlass zur Bildung eigentlicher Familiengerichte gab, die sich auch mit dem Kindes- und Erwachsenenschutz hätten befassen können.

 

Ein Scheidungsurteil sei «der Entscheid eines Schiedsrichters, der das Spiel nicht gesehen hat».

 

Das Familienrecht ist ja auch in anderen Punkten revidiert worden. War das immer ein Gewinn oder gelegentlich doch nur der Tausch eines Missstandes gegen einen anderen?

Das Zivilgesetzbuch war einst ein Vorbild für halb Europa. Der familienrechtliche Teil blieb während sechzig Jahren völlig unverändert. Die ersten grossen Reformen betrafen das Kindesrecht und das Eherecht. Sie wurden jeweils zehn Jahre lang vorbereitet. Seither hat sich das Tempo der Revisionen immer mehr beschleunigt. Das hängt allerdings nicht mit einem staatlichen Übereifer zusammen, sondern mit dem gesellschaftlichen Wandel. Nun ist das ZGB zu einer ständigen Baustelle und damit zu einem ewigen Provisorium geworden, was sich auch auf die Qualität der Gesetzgebung auswirkt. Der Plan, die gemeinsame elterliche Sorge zum Regelfall zu erklären, ist ja noch durchaus geglückt, obwohl den Eltern zu wenig deutlich gemacht wurde, dass die Verantwortung
zwangsläufig einem allein übertragen werden muss, wenn sie nicht mehr
miteinander zu kommunizieren vermögen. Auch das Vorhaben, die Ansprüche in der beruflichen Vorsorge vor und nach einem Rentenfall aufzuteilen, ist noch halbwegs gelungen, obschon es den Ehegatten bei der Scheidung zu leicht gemacht wurde, auf ihren Anteil zu verzichten, solange sie eine irgendwie «angemessene» eigene Vorsorge besitzen. Die Einführung des Betreuungsunterhalts ist hingegen schlicht missraten.

 

Was ist denn bei der Regelung des Betreuungsunterhalts schiefgegangen?

In der Regel enthält das Gesetz eine Art Musterlösung, hier begnügt es sich mit einem plakativen Schlagwort. Merkwürdig wirkt dabei schon, dass die Abgeltung des Betreuungsaufwands in den Kindesunterhalt eingeschlossen wurde. Damit ist das Kind quasi zum Arbeitgeber seiner Eltern aufgestiegen. Unbefriedigend scheint aber namentlich, dass das Recht keinen einzigen Anhaltspunkt liefert, wie dieser Unterhaltbeitrag bemessen werden soll. Eigentlich müsste es um eine Bewertung der Betreuungsleistung gehen und nicht um eine Unterstützung der Betreuungsperson. In der Botschaft wurde trotzdem vorgeschlagen, die notwendigen Lebenskosten des betreuenden Elternteils zu decken, und diese an sich unverbindliche Anregung ist in Lehre und Praxis diskussionslos übernommen worden.

 

Trifft der Eindruck zu, dass jeder Kanton, ja vielleicht sogar jedes Gericht den Betreuungsunterhalt anders berechnet?

Es haben sich zwei Lager gebildet: Nach der einen Auffassung wird der konkrete Grundbedarf der Betreuungsperson ermittelt und ihrem effektiven Verdienst gegenübergestellt; darauf wird das verbleibende Manko mit dem Betreuungsunterhalt aufgefüllt. Nach der anderen, auch vom Kantonsgericht St.Gallen vertretenen Meinung wird der Grundbedarf für eine Wohnregion pauschal festgesetzt; davon wird je nach angenommener Erwerbsquote, unabhängig vom tatsächlichen Lohn ein
Anteil als Betreuungsunterhalt bestimmt. Dabei schwanken die Bedarfsansätze zwischen 2’500 und 3’500 Franken im Monat. Ganz unterschiedlich wird sodann auch die Frage beantwortet, in welchem Zeitpunkt einem allein betreuenden Elternteil neben der Familienarbeit eine Erwerbstätigkeit zuzumuten sei – schon ab dem vollendeten dritten Lebensjahr des Kindes (wie in Deutschland), beim Eintritt in den Kindergarten, nach dem Übergang in die Primarschule oder wie
bisher erst nach dem zehnten Geburtstag des Kindes. Damit ist das Durcheinander komplett, und das Bundesgericht wird es schwer haben, Ordnung zu schaffen. Bis heute hat es damit noch nicht einmal begonnen.

 

Sie waren neben Ihrem Richterberuf auch als Dozent und Autor tätig. Was hat Sie dazu gebracht?

Das Recht prägt mit Geboten und Verboten unser ganzes Leben. Überall – in Gesetzen, Reglementen, Verträgen und Verkehrssignalen – gibt es Normenfallen, in die man blind hineintappen kann. Eine Aufklärung wäre dringend nötig. Die Rechtskunde ist aber leider kein Schulfach. Erwachsene erwerben ihre Kenntnisse vor allem aus Kriminalromanen, in denen Detektive rechtsstaatliche Prinzipien systematisch missachten, und aus Gerichtsreportagen, bei denen Journalisten Gerichtsverhandlungen wie Theaterstücke behandeln. Mir war die Rolle eines Wissensvermittlers stets wichtiger als jene einer Autoritätsperson. Ich träumte davon, dass die Justiz ein Stück weit überflüssig würde, wenn die Bürgerinnen und Bürger nur genügend informiert wären. Seit meinem Rücktritt vom Richteramt habe ich die Seiten gewechselt. Ich sitze nun auf der Zuschauerbank und schreibe für das St.Galler Tagblatt Geschichten über den zwar unspektakulären, aber doch vielfältigen Alltag der Gerichte.

 

Das Buch «Ehe Partnerschaft Kinder», das Sie zusammen mit der renommierten Zürcher Professorin Andrea Büchler verfasst haben, ist soeben neu erschienen. An wen richtet sich dieses Buch? 

An sich ist es als Lehrbuch gedacht, in dem die Studierenden aber nicht zum Auswendiglernen verleitet, sondern mit kritischen Fragen zum selbständigen Denken angeregt werden sollen. Wir bezeichnen es gerne auch als Lese- und Arbeitsbuch, mit dem wir die historische Entwicklung des Familienrechts verständlich beschreiben, das aktuelle Recht anschaulich darstellen, einen Blick über die Grenze in andere Rechtsordnungen ermöglichen und zum praktischen Handeln, etwa bei Verhandlungen oder Kinderanhörungen anleiten möchten.

 

Das Durcheinander ist komplett, und das Bundesgericht wird es schwer haben, Ordnung zu schaffen. Bis heute hat es damit noch nicht einmal begonnen.

 

Was ist das Besondere an diesem Buch? 

Wir haben uns vor allem bemüht, den Stoff mit Übungsbeispielen,
Formulierungsmustern und Berechnungstabellen zu illustrieren. Das Buch enthält zudem rund hundert Fallgeschichten, weil wir überzeugt sind, dass man in einer Zeit, in der klare Leiturteile immer häufiger durch reine Ermessensentscheide ersetzt werden, aus Einzelfällen am meisten lernt. Dabei wird vor allem auch die st.gallische Gerichtspraxis berücksichtigt. Ich habe gewissermassen einen Teil des Buchs zwei Mal geschrieben – zuerst in der Form publizierter Urteile und hierauf als Nacherzählung der eigenen Fälle.

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