Verhaltenspflichten nach einem Verkehrsunfall – Wie verhält man sich korrekt?

Verkehrsunfälle ereignen sich naturgemäss unverhofft und stellen für die Betroffenen regelmässig eine Ausnahmesituation dar. Um die mit einem Unfall im Strassenverkehr einhergehenden Unannehmlichkeiten möglichst gering zu halten, gilt es im Ernstfall die gesetzlich vorgesehenen Verhaltensregeln und -pflichten zu beachten.Autor: lic. iur. Armin Eugster
Verhaltenspflichten nach einem Verkehrsunfall – Wie verhält man sich korrekt?

A. Grundsätzliches
Die Verhaltenspflichten von Verkehrsteilnehmern bei Unfällen sind primär im Strassenverkehrsgesetz (Art. 51 SVG) und der Verkehrsregelnverordnung (Art. 54 ff. VRV) normiert und umfassen die Verkehrssicherung, die Hilfeleistung und die Beweissicherung. Es wird zwischen allgemeinen Pflichten und besonderen Pflichten bei Personen- und Sachschäden unterschieden.

 

B. Allgemeine Verhaltenspflichten
Zu den allgemeinen Verhaltenspflichten bei Verkehrsunfällen gehören das unverzügliche Anhalten und die Sicherung der Unfallstelle (Art. 51 Abs. 1 SVG). Sie greifen grundsätzlich bei jedem Unfall, unabhängig davon, ob es sich um einen Selbstunfall oder einen Unfall mit Drittschädigung handelt. Die Beteiligten müssen sofort anhalten, mithin direkt auf der Unfallstelle oder sobald es ihnen ohne Schaffung einer zusätzlichen Gefahr für den Verkehr möglich ist. Die Fahrt darf erst fortgesetzt werden, wenn feststeht, dass weder Sachen noch Personen zu Schaden gekommen sind und die Verkehrssicherheit nicht beeinträchtigt ist. Zur Sicherung der Unfallstelle gehören vorwiegend Verkehrssicherungsmassnahmen wie das vorschriftsgemässe Anbringen des Pannensignals, das Einstellen der Warnblinklichter oder die Verkehrsregelung durch Handzeichen (Art. 66 i.V.m. 67 Abs. 2 SSV; 23 VRV). Lässt sich eine Gefahr für die Verkehrssicherheit nicht umgehend beseitigen (z. B. bei Fahrzeugpannen oder herabgefallener Ladung), muss sofort die Polizei benachrichtigt werden (Art. 54 Abs. 2 VRV).

 

C. Besondere Verhaltenspflichten bei Personenschäden
Wurden durch das Unfallereignis Personen verletzt, sind alle am Unfall Beteiligten zur Hilfeleistung gegenüber den Verletzten, zur Benachrichtigung der Polizei und zur Mitwirkung bei der Sachverhaltsfeststellung verpflichtet (Art. 51 Abs. 2 SVG, 55 Abs. 1 und 2 VRV).

 

1. Pflicht zur Hilfeleistung
Für die Hilfeleistungspflicht kommt es nicht auf die Schwere der Verletzung an; sie kommt bereits bei kleinen Schürfungen und Prellungen zum Tragen. Zur Hilfeleistung sind auch am Unfall unbeteiligte Dritte verpflichtet (Art. 51 Abs. 2 i.V.m. 55 Abs. 3 SVG). Entsprechend ihren Fähigkeiten haben Unfallbeteiligte und unbeteiligte Dritte die ihnen zumutbaren (lebensrettenden) Sofortmassnahmen zu treffen.

Dazu gehören insbesondere die Bergung von Verletzten aus dem Gefahrenbereich, das Leisten von Erster Hilfe und die Benachrichtigung der Sanität. Die Hilfeleistungspflichtigen haben ihre Hilfe auch bei weniger schweren Verletzungen anzubieten und sie sind erst dann von ihren Pflichten befreit, wenn ein Verletzter die Hilfe überlegt, ernsthaft und endgültig ablehnt. Zur Hilfeleistungspflicht gehört auch der Transport von Unfallopfern in ein Spital oder zu einem Arzt (vgl. Art. 55 Abs. 3 VRV).

 

Für die Hilfeleistungspflicht kommt es nicht auf die Schwere der Verletzung an.

 

2. Pflicht zur Benachrichtigung der Polizei
Bei Personenschäden sind die Beteiligten zwingend verpflichtet, zur Feststellung des Unfallhergangs sofort die Polizei zu benachrichtigen (Art. 51 Abs. 2 Satz 2 SVG und 55 Abs. 1 VRV). Von einem Beizug der Polizei kann nur dann abgesehen werden, wenn sich die Verletzungen auf kleine Schürfungen oder Prellungen beschränken und die geschädigte Person nicht auf eine Benachrichtigung der Polizei besteht (Art. 55 Abs. 2 Satz 1; 56 Abs. 1bis und 2 VRV). In diesem Fall hat die schädigende Person der verletzten Person Namen und Adresse anzugeben und sich nachträglich bei der Polizei zu melden, sollten die Verletzungen des Opfers doch über kleine Schürfungen oder Prellungen hinausgehen (Art. 55 Abs. 2 Satz 1; 56 Abs. 4 VRV). Ein Beizug der Polizei kann auch dann unterbleiben, wenn ausschliesslich die fahrzeugführende Person, ihre Angehörigen oder Familiengenossen geringfügig verletzt wurden und keine Drittpersonen am Unfall beteiligt sind (Art. 55 Abs. 2 Satz 2 VRV).

 

3. Verbot der Veränderung der Unfallstelle
Soweit ein Beizug der Polizei erfolgt, gilt das Verbot der Veränderung der Unfallstelle und die Markierungspflicht. Die Lage an der Unfallstelle darf bis zum Eintreffen der Polizei nicht verändert werden. Sind Veränderungen zum Schutz von verletzten Personen oder zur Sicherung des Verkehrs notwendig, soll die ursprüngliche Lage vorher auf der Strasse aufgezeichnet werden (Art. 56 Abs. 1 VRV).

 

4. Pflicht zum Verbleib auf der Unfallstelle und zur Mitwirkung bei der Sachverhaltsfeststellung
Bei meldepflichtigen Verkehrsunfällen mit Personenschäden sind die Unfallbeteiligten überdies verpflichtet, bei der Feststellung des Tatbestandes durch die Polizei mitzuwirken. Ohne Zustimmung der Polizei dürfen sie die Unfallstelle nur verlassen, soweit sie selbst Hilfe benötigen, oder um Hilfe oder die Polizei herbeizurufen (Art. 51 Abs. 2 SVG). Am Unfall nicht beteiligte, hilfeleistungspflichtige Dritte sind nicht zum Verbleib auf der Unfallstelle und zur Mitwirkung bei der Sachverhaltsfeststellung verpflichtet. Auch die unfallverursachende Person, die in einem späteren Strafverfahren als Beschuldigte infrage kommt, ist zum Verbleib auf der Unfallstelle verpflichtet. Allerdings dürfen die einer möglichen strafrechtlichen Verfolgung ausgesetzten Unfallverursacher aufgrund des Verbotes des Selbstbelastungszwanges nicht zur Aussage gezwungen werden. Sie können von der Polizei lediglich aufgefordert werden, Angaben zum Unfallhergang zu machen, dürfen im Falle der Aussageverweigerung aber nicht bestraft werden. Auf Verlangen haben sie ihre Personalien anzugeben und Ausweispapiere vorzulegen (vgl. Art. 215 Abs. 2 lit. a und b StPO).

 

D. Besondere Verhaltenspflichten bei Sachschäden
Bei einem Unfall mit blossem Sachschaden ist die schädigende Person verpflichtet, sofort die geschädigte Person zu benachrichtigen und ihr Namen und Adresse anzugeben. Wenn dies nicht möglich ist, hat sie unverzüglich die Polizei zu verständigen (Art. 51 Abs. 3 SVG). Die Melde- und Benachrichtigungspflicht obliegt ausschliesslich der schädigenden Person und besteht unabhängig von der Höhe des Schadens. Sie entfällt lediglich dann, wenn ein Sachschaden zweifelsfrei ausgeschlossen werden kann.

 

1. Pflicht zur Benachrichtigung der geschädigten Person
Die schädigende Person hat die geschädigte Person bei Unfällen ohne deren (direkte) Beteiligung sofort zuverlässig und vollständig über den Unfall sowie Art und Umfang des entstandenen Schadens in Kenntnis zu setzen und ihr Namen und Adresse mitzuteilen. Sie hat sicherzustellen, dass die geschädigte Person vom Inhalt der Nachricht Kenntnis erhält. Die Hinterlegung einer Visitenkarte oder das Anbringen einer Notiz unter Angabe von Namen, Adresse und Telefonnummer am beschädigten Fahrzeug oder dem Briefkasten der geschädigten Person genügen nicht.

 

2. Pflicht zur Benachrichtigung der Polizei
Die schädigende Person muss die Polizei verständigen, wenn keine Möglichkeit besteht, die geschädigte Person sofort über den Unfall in Kenntnis zu setzen (Art. 51 Abs. 3 SVG). Die Verständigung der Polizei hat wie die Benachrichtigung der geschädigten Person unverzüglich, zuverlässig, vollständig und grundsätzlich persönlich zu erfolgen. Die Benachrichtigung der Polizei zur Feststellung des Sachverhaltes bei reinen Sachschäden ist nicht zwingend, wenn die geschädigte Person beim Unfall anwesend war. Die geschädigte Person kann aber selbst dann auf den Beizug der Polizei bestehen, wenn die schädigende Person ihre alleinige Schuld anerkannt hat (Art. 56 Abs. 2 VRV). Auch andere Beteiligte, die als Haftpflichtige infrage kommen, können eine Tatbestandsaufnahme durch die Polizei beantragen (Art. 56 Abs. 1bis VRV).

 

3. Pflicht zum Verbleib auf der Unfallstelle und zur Mitwirkung bei der Sachverhaltsfeststellung, Verbot der Veränderung der Unfallstelle
Zieht eine beteiligte Person bei Unfällen mit Sachschäden die Polizei hinzu, sind sowohl die geschädigte Person als auch alle übrigen am Unfall beteiligten Personen so lange zur Mitwirkung bei der Sachverhaltsfeststellung verpflichtet, bis sie von der Polizei entlassen werden (Art. 56 Abs. 2 VRV). Ein Verbot der Veränderung der Unfallstelle besteht auch bei blossen Sachschäden, wenn die geschädigte Person auf die Nichtveränderung und den Beizug der Polizei besteht.

 

4. Pflichten bei Unfällen mit Tieren
Die fahrzeugführende Person, die ein Tier anfährt und dieses verletzt, muss sofort anhalten und falls erforderlich für die Sicherung des Verkehrs sorgen (Art. 51 Abs. 1 SVG). Bei Heim- oder Nutztieren (Hunde, Katzen, Kühe, Schafe etc.) muss sie zudem sofort den Eigentümer des verletzten Tieres oder, wenn dieser nicht bekannt ist, die Polizei kontaktieren (Meldepflicht; Art. 51 Abs. 3 SVG). Bei wildlebenden Tieren, die rechtlich als herrenlose Sachen gelten und an denen kein Eigentum besteht (vgl. Art. 664 Abs. 3 ZGB), bietet die Polizei nach ihrer Verständigung i.d.R. den Wildhüter oder Jagdaufseher des betroffenen Jagdreviers auf (vgl. Art. 62bis JG SG zur Gebührenpflicht). Bei kleinen Wildtieren wie Vögel oder Amphibien, die durch die Kollision sofort tot sind, besteht keine Pflicht zur Benachrichtigung der Polizei. Eine gesetzliche Hilfeleistungspflicht gegenüber dem verletzten Tier existiert nicht. Bei Wildtieren wird davon abgeraten, sich dem verletzten Tier anzunähern oder es zu berühren. Unterlässt es die fahrzeugführende Person allerdings, sofort die Polizei über den Unfall sowie die Verletzungen des Tieres in Kenntnis zu setzen und erleidet das Tier dadurch einen qualvollen Tod, macht sie sich der Tierquälerei nach Art. 26 TSchG strafbar.

 

E. Folgen bei Verletzung der Verhaltenspflichten

1. Strafrechtliche Konsequenzen
Wer bei einem Verkehrsunfall die ihm obliegenden Verhaltenspflichten verletzt, wird mit Busse bestraft (Art. 92 Abs. 1 SVG). Die Fahrerflucht bei Verkehrsunfällen, bei denen ein Mensch verletzt oder getötet wird, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft (Art. 92 Abs. 2 SVG).

 

Bei einem Unfall mit blossem Sachschaden ist die schädigende Person verpflichtet, sofort die geschädigte Person zu benachrichtigen und ihr Namen und Adresse anzugeben.

 

2. Administrativmassnahmen
Als administrative Konsequenzen bei der Verletzung von Verhaltenspflichten bei Verkehrsunfällen drohen eine Verwarnung oder ein Entzug des Führerausweises (Art. 16 ff. SVG).

 

3. Zivilrechtliche Konsequenzen
In zivilrechtlicher Hinsicht steht eine ausservertragliche Haftung nach Art. 41 OR für die unterlassene oder nicht sachgemässe Hilfeleistung im Vordergrund.

 

Die Benachrichtigung der Polizei zur Feststellung des Sachverhaltes bei reinen Sachschäden ist nicht zwingend, wenn die geschädigte Person beim Unfall anwesend war.

Fazit

Im Ernstfall gilt es für die verkehrsteilnehmenden Personen bei Verkehrsunfällen trotz des Ausnahmezustandes den Überblick zu bewahren und die gesetzlich vorgeschriebenen Verhaltenspflichten einzuhalten, um weiterreichende Konsequenzen und ein straf- oder zivilrechtliches Nachspiel möglichst zu vermeiden. Neben den allgemeingültigen grundsätzlichen Verhaltenspflichten hängt das Ausmass weiterer besonderer Verhaltenspflichten in erster Linie davon ab, ob es durch den Verkehrsunfall zu Personenschäden oder blossen. Gibt es verletzte Personen, ist die Polizei grundsätzlich zwingend beizuziehen. Liegt hingegen nur Sachschaden vor, muss sie nur involviert werden, wenn die geschädigte Person nicht sofort benachrichtigt werden kann oder eine am Unfall beteiligte Person auf den Beizug besteht. Entgegen einer anderen landläufig verbreiteten Ansicht, sind auch am Unfall unbeteiligte Drittpersonen gegenüber verletzten Personen zur Hilfeleistung verpflichtet. Unabhängig von der Tragweite des Verkehrsunfalls und dem Beizug der Polizei empfiehlt es sich in jedem Fall, sowohl Unfallhergang als auch Schadensbild sauber zu dokumentieren und das Unfallprotokoll vollständig auszufüllen und zu unterschreiben, um späteren – insbesondere auch versicherungstechnischen – Differenzen und Unstimmigkeiten von vornherein aus dem Weg zu gehen.

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