Stärkung der Versichertenrechte und Anpassung an die heutigen Herausforderungen

Der bundesrätliche Entwurf zur schon lange fälligen Revision des VVG zuhanden des Parlaments liess Befürchtungen aufkommen, dass es zu einer für die Versicherten nachteiligen Neugestaltung kommen würde. In der parlamentarischen Beratung kam es jedoch zu diversen Anpassungen des Entwurfes und insgesamt zu einer deutlichen Verbesserung der Rechte der Versicherten. Nachfolgend werden einige wichtige Neuerungen aus Sicht des Versichertenanwaltes in Kürze dargestelltAutor: lic. iur. HSG Roland Zahner
Stärkung der Versichertenrechte und Anpassung an die heutigen Herausforderungen

1. Direktes Forderungsrecht

Zu den praktisch wohl bedeutendsten Neuerungen zählt das direkte Forderungsrecht des Geschädigten gegen den Haftpflichtversicherer des Schädigers (Art. 60 Abs. 1bis nVVG). Damit kann ein Geschädigter im Schadenfall Ansprüche direkt bei der Haftpflichtversicherung geltend machen. Das direkte Forderungsrecht gilt neu generell und nicht mehr bloss in einigen Spezialgebieten wie namentlich bei Strassenverkehrsunfällen. Der aus Versichertensicht erhoffte Einredenausschluss wurde jedoch nur bei obligatorischen Haftpflichtversicherungen aufgenommen (Art. 59 Abs. 3 nVVG), womit in anderen Bereichen der Versicherer dem Geschädigten gegenüber Einwendungen und Einreden aufgrund des Gesetzes oder des Vertrages entgegenhalten kann.

In Fällen mit obligatorischer Haftpflichtversicherung kann der geschädigte Dritte neuerdings vom haftpflichtigen Versicherten oder von der zuständigen Aufsichtsbehörde die Nennung des Versicherungsunternehmens verlangen. Dieses hat Auskunft zu geben über Art und Umfang des Versicherungsschutzes. Die Botschaft äussert sich jedoch nicht dazu, welche Behörde als zuständige Aufsichtsbehörde gilt.

 

2. Anzeigepflichtverletzung

Viele Versicherte mögen davon ausgehen, dass mit dem korrekten Beantworten der Antragsfragen ihre vorvertragliche Pflicht abschliessend erfüllt ist. Die bisher geltende Pflicht, Änderungen von Gefahrstatsachen, die zwischen Ausfüllen des Antragsformulars und dem Zustandekommen des Vertrages eintreten, dem Versicherer zu melden, dürfte weitgehend unbekannt sein. Im neuen VVG findet sich eine insofern begrüssenswerte Änderung, als dass für die Beurteilung der Vollständigkeit bzw. der Richtigkeit der Deklaration von Gefahrentatsachen neu der Zeitpunkt der Beantwortung der Risikofragen und nicht wie bisher der Zeitpunkt des Vertragsabschlusses gilt. Die problematische und bei Nichteinhalten folgenschwere Nachmeldepflicht entfällt damit.

Von erheblicher Bedeutung ist zudem die – im bundesrätlichen Entwurf nicht vorgesehene – eingeführte Bindung des Ausmasses allfälliger Leistungskürzungen an einen kausalen Zusammenhang zur Anzeigepflichtverletzung (Kausalitätserfordernis). Das bedeutet, dass die Leistungspflicht nur soweit erlischt, als deren Eintritt oder Umfang durch die nicht oder unrichtig angezeigte erhebliche Gefahrentatsache beeinflusst worden ist (Art. 6 Abs. 3 nVVG).

 

3. Möglichkeit der Rückwärtsversicherung

In Art. 10 nVVG wird neu die Möglichkeit einer Rückwärtsversicherung geschaffen. Dies ist insbesondere mit Blick auf die damit mögliche Versicherung von Rückfällen bei Krankenzusatzversicherungen zu begrüssen. Bislang war es aufgrund des Rückwärtsversicherungsverbotes nämlich nicht möglich, Konstellationen zu versichern, in denen eine zu Rückfällen neigende Krankheit vor Abschluss des Versicherungsvertrages ausgebrochen war, längere Zeit ohne Symptome bestand und dann unter Geltung des neu abgeschlossenen Versicherungsvertrages erneut ausbrach.

 

4. Pflicht zur Leistung von Akontozahlungen

Eine aus Praktikersicht sehr hilfreiche Neuerung findet sich in Art. 41 Abs. 1 nVVG. Danach kann die anspruchsberechtigte Person ab Fälligkeit des Versicherungsanspruches Akontozahlungen bis zur Höhe des unbestrittenen Betrages verlangen. Damit soll das «Aushungern» der Geschädigten zur Annahme einer möglicherweise unzureichenden Entschädigung verhindert werden.

 

5. Verjährung

Eine längst fällige Änderung findet sich in Art. 46 Abs. 1 nVVG, wonach die bisherige zweijährige Verjährungsfrist auf fünf Jahre verlängert wird. Dies betrifft jedoch gemäss Abs. 2 Forderungen aus dem Vertrag der kollektiven Krankenversicherung nicht. Dort gilt weiterhin eine zweijährige Verjährungsfrist, was in der Lehre zu Recht kritisiert wird. Nicht angepasst wurde auch die ungünstige Regelung, wonach die Verjährungsfrist mit dem Eintritt der Tatsache beginnt, welche die Leistungspflicht begründet. Damit kann der Anspruch weiterhin verjährt sein, bevor der Versicherte überhaupt Kenntnis von seinem Schaden erhielt und damit in der Lage war, diesen geltend zu machen.

 

6. Nachhaftung für hängige Versicherungsfälle

Vertragsbestimmungen, welche ein Versicherungsunternehmen berechtigen, bei Beendigung des Vertrags nach Eintritt des befürchteten Ereignisses bestehende periodische Leistungsverpflichtungen als Folge von Krankheit oder Unfall bezüglich Dauer oder Umfang einseitig zu beschränken oder aufzuheben, sind neu per Kraft des Gesetzes nichtig (Art. 35c nVVG), womit die bisherige Rechtsprechung des Bundesgerichts kodifiziert wird. Brisant ist dabei, dass der bundesrätliche Entwurf solche Klauseln entgegen der bundesgerichtlichen Rechtsprechung neu zulassen wollte.

 

7. Obliegenheitsverletzungen – Kausalitätserfordernis

Bisher konnten die Versicherer bei gegebener Obliegenheitsverletzung die damit verbundenen Sanktionen unabhängig davon vornehmen, ob sich die Obliegenheitsverletzung nachteilig ausgewirkt hat. In Art. 45 Abs. 1 lit. b nVVG wird dem Versicherten neu die Möglichkeit geboten, nachzuweisen, dass die Verletzung einer seiner Obliegenheiten keinen Einfluss auf den Eintritt des befürchteten Ereignisses und den Umfang der vom Versicherungsunternehmen geschuldeten Leistungen hatte. Damit wurde eine begrüssenswerte Entlastungsmöglichkeit geschaffen – die Beweislast beliess der Gesetzgeber aber beim Versicherungsnehmer.

 

8. Widerrufsrecht

Eine schon im bundesrätlichen Entwurf vorgesehene Neuerung sieht vor, dass der Versicherungsnehmer seine Offerte zum Vertragsabschluss bzw. das Akzept binnen 14 Tagen ohne Verpflichtung widerrufen kann (Art. 2a und 2b nVVG). Das Widerrufsrecht gleicht der bekannten Regelung betreffend Widerruf bei Haustürgeschäften und ähnlichen Verträgen (Art. 40a ff. OR).

 

9. Vorvertragliche Informationspflichten

Der Ausbau der vorvertraglichen Informationspflichten des Versicherers wurde in Art. 3 nVVG erweitert. U.a. muss der Versicherer neu für jede versicherte Leistung angeben, ob es sich um eine Schaden- oder eine Summenversicherungsleistung handelt, was Prozesse zur Klärung der Frage der Versicherungsart wirksam verhindern wird (lit. b). Ebenso hat der Versicherer über das soeben erläuterten Widerrufsrecht sowie dessen Form und Befristung zu informieren (lit. h).

 

10. Möglichkeit der Kündigung oder Prämienreduktion bei Gefahrsminderung

Neu ist die Regelung in Art. 28a nVVG, welche vorsieht, dass der Versicherungsnehmer bei einer wesentlichen Gefahrsminderung berechtigt ist, den Vertrag mit einer Frist von vier Wochen schriftlich, oder in einer anderen Form, die den Nachweis durch Text ermöglicht, zu kündigen oder eine Prämienreduktion zu verlangen. Dies schafft eine gewisse Gleichbehandlung mit dem Versicherer, der wie bis anhin bei Gefahrserhöhung ein Kündigungsrecht hat (Art. 30 VVG).

 

11. Ordentliches Kündigungsrecht

Gemäss Art. 35a nVVG können alle Versicherungsverträge neu unabhängig von der vereinbarten Vertragsdauer nach drei Jahren und anschliessend jährlich gekündigt werden. Dieses Recht steht in der Lebensversicherung sowie der Zusatzversicherung zur sozialen Krankenversicherung nur den Versicherten zu.

 

12. Formvorschriften

Der Gesetzgeber hat weitgehend das Erfordernis der Schriftform im Sinne von Art. 12 ff. OR auf jenes der Textform reduziert. Textform gemäss dem neuen VVG bedeutet «schriftlich oder in einer anderen Form, die den Nachweis durch Text ermöglicht», womit keine Unterschrift mehr nötig ist. Dies ist vor allem im Hinblick auf den elektronischen Geschäftsverkehr relevant. Die Schriftform gilt u.a. weiterhin für die Bestätigung einer vorläufigen Deckung, die Kündigung bei Gefahrsminderung und den Kündigungsverzicht nach schriftlicher Anzeige einer Gefahrserhöhung.

 

13. Abschaffung der Genehmigungsfiktion

Mit der Genehmigungsfiktion gemäss dem bisherigen Art. 12 Abs. 1 VVG war ein im Herrschaftsbereich des Versicherers liegendes Risiko (bei der Dokumentation der getroffenen Vereinbarungen einen Fehler zu machen) auf den Versicherungsnehmer verlagert, was seitens der Lehre zu Recht als stossend bezeichnet wurde. Die Streichung des bisherigen Art. 12 VVG im Rahmen des neuen Gesetzes ist daher begrüssenswert. Ein Verbot einer entsprechenden Bestimmung wäre aber klarer gewesen, da so die Gefahr besteht, dass eine Versicherung die Genehmigungsfunktion vertraglich wieder aufnimmt. Aufgrund der Streichung des Artikels liegt aber der Schluss nahe, dass eine vertragliche Genehmigungsfiktion als ungewöhnlich betrachtet werden müsste. 

 

14. Zeitliche Geltung

Das neue VVG tritt am 1. Januar 2022 in Kraft. Abgesehen von den neuen Formvorschriften sowie der Neuordnung des Kündigungsrechts (Art. 35a und 35b nVVG) gelten die Vorschriften des revidierten Gesetzes aber erst für die nach dem 1. Januar 2022 abgeschlossenen Verträge (Art. 104 nVVG). Aufgrund der teils langen Vertragsdauer von Versicherungsverträgen wird das alte Recht damit noch für längere Zeit nachklingen.

 

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